AktuellGedenken

Einer, der niemals schwieg

Am 9. November vor 80 Jahren brannten in Deutschland die Synagogen, zersplitterten die Fenster der Läden jüdischer Inhaber, wurden jüdische Friedhöfe geschändet… Das war Teil dessen, was der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der AfD, Gauland, als „Vogelschiss der Geschichte“ zu banalisieren versucht.

Am 10. November 1994 eröffnete der Schriftsteller Stefan Heym als Alterspräsident den Deutschen Bundestag. Er war Abgeordneter der PDS. Es ist beeindruckend wie klar er vor einem Vierteljahrhundert die Konflikte unserer Welt benannte und erschreckend, dass sie immer noch herrschen. In Erinnerung an ihn und seine mahnenden Worte hier seine Rede:

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle eröffnete vor vier Jahren Willy Brandt den ersten gesamtdeutschen Bundestag. Ich habe zur Vorbereitung der meinen seine Rede vor kurzem noch einmal gelesen und mit Bedauern festgestellt, dass sich nicht alles von dem, was ihm vorschwebte, erfüllt hat. Willy Brandt hat uns verlassen, doch wir stehen, meine ich, immer noch in seiner Pflicht.

(Beifall bei der SPD, der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) 

— Ich danke Ihnen.

An dieser Stelle stand im gefahrvollen Jahre 1932 auch Clara Zetkin und eröffnete den damals neu gewählten Reichstag. Wir wissen, was aus dem Reichstag wurde, dessen Sitzungsperiode diese hochherzige Frau damals auf den Weg brachte. Zum Reichstagspräsidenten wurde Hermann Gö ring gewählt, und der Kanzler, den der Reichstag ernannte, hieß Adolf Hitler. Fast 200 der Reichstagsmitglieder gerieten in Gefängnisse und Konzentrationslager, über die Hälfte davon starben eines gewaltsamen Todes.

Das Reichstagsgebäude, in dem wir uns heute befinden, brannte. Ich selber habe den Brand gesehen. Kurz darauf mußte ich Deutschland verlassen und sah es erst in amerikanischer Uniform wieder — ein Überlebender — und kehrte Jahre später dann in den östlichen Teil des Landes, in die DDR, zurück, wo ich auch bald in Konflikt mit den Autoritäten geriet.

Wenn einer wie ich, mit dieser Lebensgeschichte, sich jetzt von hier aus an Sie wenden und den 13. Deutschen Bundestag, den zweiten des wiedervereinigten Deutschlands, eröffnen darf, so bestärkt das meine Hoffnung, dass unsere heutige Demokratie doch solider gegründet sein möchte als es die Weimarer war, und dass diesem Bundestag wie auch jedem künftigen ein Schicksal wie das des letzten Reichstages der Weimarer Republik erspart bleiben mag.

Wir werden in den nächsten vier Jahren keine leichte Zeit haben. Es werden Entwicklungen auf uns zukommen, auf welche sich die wenigsten von uns, schätze ich, bisher eingestellt haben und um die wir uns nicht werden herumschwindeln können. Wie sagte doch Abraham Lincoln, der große amerikanische Präsident? „Einen Teil der Menschen können Sie die ganze Zeit zum Narren halten, und alle Menschen einen Teil der Zeit, aber nicht alle Menschen die ganze Zeit.“

Die Krise, in welche hinein dieser Bundestag gewählt wurde, ist nicht nur eine zyklische, die kommt und geht, sondern eine strukturelle, bleibende, und dieses weltweit. Zwar hat die Mehrheit der davon betroffenen Völker sich von der hemmenden Last des Stalinismus und Post-Stalinismus befreit. Aber die Krise, von der ich sprach, eine Krise nunmehrder gesamten Industriegesellschaft, tritt dadurch nur um so deutlicher in Erscheinung.

Wie lange wird der Globus noch, der einzige, den wir haben, sich die Art gefallen lassen, wie diese Menschheit ihre tausenderlei Güter produziert und konsumiert? Wie lange wird die Menschheit sich die Art gefallen lassen, wie diese Güter verteilt werden?

Der 13. Bundestag wird die Probleme, die sich aus diesen zwei Fragen ergeben, nicht lösen können, aber er kann ihre Lösung in Angriff nehmen, die Herausforderung akzeptieren.

Deutschland, und gerade das vereinigte, hat eine Bedeutung in der Welt gewonnen, der voll zu entsprechen wir erst noch lernen müssen. Denn es geht nicht darum, unser Gewicht vornehmlich zum unmittelbaren eigenen Vorteil in die Waagschale zu werfen, sondern das Überleben künftiger Generationen zu sichern.

Brecht schrieb:

Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand,
dass ein gutes Deutschland blühe
wie ein anderes gutes Land.

Dass die Völker nicht erbleichen
wie vor einer Räuberin,
sondern ihre Hände reichen
uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
andern Völkern woll’n wir sein,
von der See bis zu den Alpen,
von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern,
lieben und beschirmen wir’s.
Und das liebste mag’s uns scheinen
so wie andern Völkern ihr’s.

Arbeits- und Obdachlosigkeit, Pest und Hunger, Krieg und Gewalttat, Naturkatastrophen bisher unbekannten Ausmaßes begleiten uns täglich. Dagegen sind auch die besten Armeen machtlos. Hier braucht es zivile Lösungen: politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle.

Reden wir nicht nur von der Entschuldung der Ärmsten, entschulden wir sie. Nicht die Flüchtlinge, die zu uns dringen, sind unsere Feinde, sondern die, die sie in die Flucht treiben.

(Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS]) 

Toleranz und Achtung gegenüber jedem einzelnen und Widerspruch und Vielfalt der Meinungen sind vonnöten, ebenso wie eine politische Kultur, mit der unser Land, das geeinte, seine besten Traditionen einbringen kann in ein geeintes, freies und friedliches Europa. Benutzen wir die Macht, die wir haben, vor allem die finanzielle, weise und mit sensibler Hand. Macht, wie wir wissen, korrumpiert. Absolute Macht korrumpiert absolut.

Die Menschheit kann nur in Solidarität überleben. Das aber erfordert Solidarität zunächst im eigenen Lande: West, Ost, oben, unten, reich, arm.

Ich habe mich immer gefragt, warum die Euphorie über die deutsche Einheit so schnell verflogen ist. Vielleicht weil ein jeder als erstes Ausschau nach den materiellen Vorteilen hielt, die die Sache ihm bringen würde: den einen Märkte, Immobilien, billigere Arbeitskräfte; den anderen — bescheidener — harte Mark und ein grenzenloses Angebot an Gütern und Reisen.

Zu wenig wurde nachgedacht über die Chancen, die durch die Vereinigung unterschiedlicher Erfahrungen, positiver wie negativer, sich für das Zusammenleben und die Entwicklung der neuen alten Nation ergeben könnten und — wie ich hoffe — noch immer ergeben können.

Es wird diesem Bundestag obliegen, dafür zu sorgen, dass die mit der Einheit zusammenhängenden Fragen nicht länger in erster Linie ins Ressort des Bundesfinanzministers fallen. Die gewaltlose Revolution vom Herbst 1989 hat den Menschen der alten Bundesländer Möglichkeiten zu neuer Expansion gebracht und denen der Ex-DDR Rechte und Freiheiten, die keiner von ihnen mehr missen möchte und die — ich betone das ausdrücklich — sie sich selber erkämpften. Diejenigen DDR-Bürger, die die Waffen zur Erhaltung des ungeliebten Systems besaßen, waren zurückhaltend genug, auf deren Anwendung zu verzichten. Dieses sollte, so meine ich, bei ihrer künftigen Beurteilung zumindest mit in Betracht gezogen werden.

Die Vergangenheitsbewältigung, von der heute um der Gerechtigkeit willen soviel die Rede ist, sollte eine Sache des ganzen deutschen Volkes sein, damit nicht neue Ungerechtigkeiten entstehen. Aber vergessen wir dabei nicht, dass die Jahrzehnte des Kalten Krieges, welche uns die Spaltung Deutschlands mitsamt der schrecklichen Mauer und deren Folgen brachten, historisch gesehen, das Resultat des Naziregimes waren und des Zweiten Weltkriegs, der von diesem ausging.

Die Effizienz des Westens, seine demokratischen Formen und andere Qualitäten des Lebens dort, die zum Nutzen der Ostdeutschen zu übernehmen wären, liegen zutage. Aber umgekehrt? Gibt es nicht auch Erfahrungen aus dem Leben der früheren DDR, die für die gemeinsame Zukunft Deutschlands zu übernehmen sich ebenfalls lohnte? Der gesicherte Arbeitsplatz vielleicht? Die gesicherte berufliche Laufbahn? Das gesicherte Dach überm Kopf?

(Unruhe bei der CDU/CSU) 

Nicht umsonst protestieren ja zahllose Bürger und Bürgerinnen der Ex-DDR dagegen, dass die Errungenschaften und Leistungen ihres Lebens zu gering bewertet und kaum anerkannt oder gar allgemein genutzt werden.

Unterschätzen Sie doch bitte nicht ein Menschenleben, in dem, trotz aller Beschränkungen, das Geld nicht das Allentscheidende war, der Arbeitsplatz ein Anrecht von Mann und Frau gleichermaßen, die Wohnung bezahlbar und der wichtigste Körperteil nicht der Ellenbogen.

Ich weiß sehr wohl, dass man Positives aus Ost und West nur schwer miteinander verquicken kann. Wir haben jedoch so lange mit unterschiedlichen Lebensmaximen in unterschiedlichen Systemen gelebt — und überlebt! —, dass wir jetzt auch fähig sein sollten, mit gegenseitiger Toleranz und gegenseitigem Verständnis unsere unterschiedlichen Gedanken in der Zukunft einander anzunähern.

Das setzt allerdings voraus, dass den Menschen ihre Ängste genommen werden: den Westdeutschen, der Osten könnte sie ihre Ersparnisse und ihre Arbeitsplätze kosten; den Ostdeutschen, der Westen könnte sie ihrer Häuser und Wohnungen und Stückchen Landes berauben und ihrer Jobs dazu, ihre Berufsabschlüsse nicht anerkennen und ihre Rentenansprüche aus irgendwelchen Gründen kürzen. Ängste? Wie oft sind es schon traurige Realitäten! Also lassen Sie uns solche Realitäten ändern.

Und diese Annäherung im Denken setzt ferner voraus, dass die Regierung eines so reichen Landes, wie es die jetzt vereinte Bundesrepublik ist, ernsthafte und vor allem wirksame Bemühungen unternimmt, Arbeitsplätze zu schaffen, selbst wenn kein Investor neue Profite aus solchen Bemühungen schlagen kann. Massenarbeitslosigkeit, meine Damen und Herren — das haben Ihre Eltern vor Jahren schon durchleben müssen —, zerstört die gesamte Gesellschaft und treibt das Land in den Abgrund.

Die Menschen erwarten von uns hier, dass wir Mittel und Wege suchen, die Arbeitslosigkeit zu überwinden, bezahlbare Wohnungen zu schaffen, der Armut abzuhelfen und — im Zusammenhang damit — Sicherheit auf den Straßen und Plätzen unserer Städte und in den Schulen unserer Kinder zu garantieren, und jedermann und jederfrau den Zugang zu Bildung und Kultur zu öffnen. Das heißt: Die Menschen erwarten, dass wir uns als Wichtigstes mit der Herstellung akzeptabler, sozial gerechter Verhältnisse und der Erhaltung unserer Umwelt beschäftigen. Die Vorstellungen in diesem Hause dazu mögen weit auseinanderklaffen. Lassen Sie uns ruhig darüber streiten. Doch in einem werden wir hoffentlich übereinstimmen: Chauvinismus, Rassismus, Antisemitismus und stalinsche Verfahrensweisen sollten für immer aus unserem Lande gebannt sein.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der PDS sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) 

Dieser Bundestag wird derlei nicht völlig verhindern können, aber er kann dazu beitragen, ein Klima zu schaffen, in dem Menschen, die solch verfehlten Denkweisen anhängen, der öffentlichen Ächtung verfallen.

All dieses jedoch kann nicht die Angelegenheit nur einer Partei oder einer Fraktion sein. Es ist nicht einmal die Sache eines Parlamentes nur, sondern die aller Bürgerinnen und Bürger, West wie Ost. Und wenn wir von diesen moralisches Verhalten verlangen und Großzügigkeit und Toleranz im Umgang miteinander, dann müssen wir wohl als ihre gewählten Repräsentanten mit gutem Beispiel vorangehen.

Und just darum plädiere ich dafür, dass die Debatte um die notwendigen Veränderungen in unserer Gesellschaft Sache einer großen, bisher noch nie dagewesenen Koalition werden muß, einer Koalition der Vernunft, die eine Koalition der Vernünftigen voraussetzt.

In diesem Sinne eröffne ich den 13. Deutschen Bundestag und wünsche uns allen Glück für unsere gemeinsame Arbeit.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS)

Quelle: Sitzung des Bundestag vom 10. November 1994, Plenarprotokoll 13/1, Hervorhebungen ebenda